Über keinen Syrer kann ich so viele lustige Geschichten erzählen wie über Mouhnnad. Aber auch so viele herzzerreißende, die mir die Tränen in die Augen treiben. Wir haben uns per Zufall kennengelernt. Da lebte er in einer Männer-WG in Durmersheim. Froh darüber, hier zu sein. Traurig darüber, seine frisch vermählte Frau noch in Syrien zu wissen. So wie seine Eltern und Geschwister. Es war sein Vater, der ihn nicht bat, sondern ihn drängte, ja regelrecht befehligte, aus Syrien zu fliehen. Weg vom Krieg, weg von den Anschlägen. Da hatte er kurz zuvor eine Bombe verletzt überlebt und sein älterer Bruder war als Soldat gefallen. “Mein Vater wollte keinen weiteren Sohn verlieren”, sagt Mouhnnad traurig. Also machte er sich auf den Weg.
Mouhnnad spricht gut Deutsch, er ist fleißig und organisiert sein Leben engagiert in Deutschland. Mit eigener Wohnung, einem Auto und einer Ausbildungsstelle. Er lacht viel, kocht und isst gerne und macht Zukunftspläne. Doch schon mehrmals in seinem jungen Leben stand alles auf der Kippe. Erstmals bei dem Anschlag, den er überlebte. Dann auf der Flucht. Davon erzählt er nicht gerne. Wie oft er Geld zahlen musste, um auf der Route weiterzukommen. Von der Angst im Mittelmeer, als er über Bord ging und die restliche Strecke nach Griechenland schwimmen musste. Von den Strapazen, hunderte Kilometer zu laufen. Kaum etwas zu essen und zu trinken zu haben. Immer in der Angst, von Polizisten aufgegriffen zu werden.
Wenn er an Ungarn denkt, kommt alles wieder hoch: Wie Polizisten ihn jagten und Hunde auf ihn hetzten. Stundenlang versteckte er sich im Februar in einem eiskalten Gewässer – und wurde doch entdeckt. Die Uniformierten schlugen ihn, verhörten ihn, steckten ihn ins Gefängnis. Ohne Wasser. Ohne Essen. Ohne trockene Kleidung. Ohne Heizung. Sollte alles umsonst gewesen sein? Er denkt an die Schlagstöcke auf seinen Füßen. Doch dann kommt Mouhnnad plötzlich frei. Er sucht den Weg an die Eisenbahnstrecke nach Österreich, mit dem Zug fährt er mit dem letzten bisschen Geld nach Wien und von da nach Deutschland. Alles wie in einem Film noir.
Im Badischen findet er Freunde. Aber er kommt nicht zur Ruhe. Zu groß ist die Sehnsucht nach seiner Laila. Noch in Syrien hatte er geglaubt, dass sie mit dem Flugzeug nachkommen kann. Doch daraus wird nichts. Er leidet. Genau wie sie rund 2700 Kilometer entfernt. Dazwischen liegt nicht nur das Mittelmeer, dazwischen liegen Welten. Schließlich der Entschluss: Laila flieht. Begleitet von Mouhnnads Cousin mit dessen Familie. Ich erlebe einen Mouhnnad zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Vorfreude und Angst. Laila kann nicht schwimmen. Und er kann sie nicht beschützen. Der Alptraum: Auf der Flucht geht irgendwann der Akku von Lailas Handy leer. Die Beiden haben keinen Kontakt. Tagelang kann Mouhnnad nicht essen, nicht schlafen. Er kennt die Route und die Gefahren. Was passiert, wenn das Boot kentert? Wir Freunde leiden mit. Unvorstellbar diese Tortur. Schließlich der erlösende Anruf: Laila ist in Österreich. Laila ist in Sicherheit.
Längst sind die Beiden wiedervereint. Mittlerweile 27 und 24 Jahre alt. Mouhnnad macht eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei dem Rastatter Unternehmer Hauraton. Eine frühere Ausbildung in Syrien wird von der Karlsruhe IHK anerkannt. Auch Laila hofft auf eine Ausbildungsstelle. Gleichbedeutend mit Perspektive, Sicherheit und somit Zukunft. Auf dem Weg in ein normales Leben. Mit einer aufwühlenden Vergangenheit.
Ute Kretschmer-Risché
Chefredakteurin RAVOLUTION. Journalistin und Autorin, Geschäftsführerin bei der Agentur exakt, Rastatt. Jahrgang 1964. "Ich möchte junge Menschen für Journalismus begeistern – als Leser und als Schreiber. Weil seriöse Medien der Garant für unsere Demokratie sind. Weil ich unsere Sprache liebe und weil Fakten das beste Mittel gegen Fake News sind."