Amir aus Kundus, Afghanistan

Dies ist die Geschichte eines Menschen, der seit 24 Jahren auf dieser Erde existiert. Sein Name ist Amir – und dies ist ein Einblick in seine Lebensgeschichte.

Amir wächst in seiner Heimatstadt Kundus auf, dort geht er zwölf Jahre lang zur Schule. Er arbeitet eine Zeitlang in einer Autowerkstatt und in einer Bibliothek der Amerikaner, in der er Computerkurse für Frauen gibt. Amir hat Haustiere. Jedoch keine gewöhnlichen, die man in einer Wohnung in Berlin halten könnte. Er hat Papageien und Hasen. Die Voliere hat er selbst gebaut. Insgesamt besitzt er zwei große Papageien und 26 kleinere Vögel. Einer der Papageien tanzte und pfiff zu Musik, der andere beherrschte das Wort „babagha“ – Papagei.

Während er mir das alles erzählt, spinnt mein Gehirn ein Bild von einer südlichen Nachbarschaft. Helle Häuser, im Garten auf grünem Rasen eine große Voliere mit bunten Vögeln. Fröhliche Menschen, ein glücklicher Amir, der von der Schule nach Hause kommt und mit seinen Vögeln spielt. Aber der Eindruck ist zu verklärt. Amir sagt mir, dass er seit seiner Geburt nichts anderes als Krieg kennt. Das schöne Bild verblasst.

2015 fällt die für Afghanistan sehr grüne und fruchtbare Stadt in die Hände der Taliban. Die Jahre zuvor haben die Drohungen und Anschläge stetig zugenommen. Auch die amerikanische Bibliothek, in der Amir arbeitet, erhält ein Drohschreiben der Taliban, eine Bombe wird vor der Tür gefunden. Amir bekommt den Hass der Terrormiliz auf die westliche Kultur unmittelbar zu spüren. Aus Angst kehrt er nicht an seinen Arbeitsplatz zurück. Als die Taliban Kundus stürmen, ist die Familie in der Wohnung eingeschlossen, ohne Nahrungsmittel. Nur durch die Hilfe der Armee, die ihre Straße tageweise zurückerobert, können sie aus der Stadt fliehen. Sie mussten jedoch alles zurücklassen, auch die Papageien.

Der jüngere Bruder überlebt nicht. Die Taliban haben ihn erschossen. Sein Vater drängt Amir zu fliehen, er will nicht noch einen Sohn verlieren. Schließlich haben es die Taliban besonders auf die jungen Männer abgesehen. Amir, damals 22 Jahre alt, lässt seine Eltern und seine beiden Schwestern zurück und macht sich auf den Weg. Einen Monat dauert die Reise zu Fuß.

Weit entfernt, in Deutschland angekommen, ist Amir alleine. Lange Zeit traut er sich kaum aus der Unterkunft. Er hat Angst, fühlt sich verloren in der neuen Umgebung. Mittlerweile lernt er Deutsch und hat einen Ausbildungsplatz als Altenpflegehelfer beim Roten Kreuz in Bühl. Er mag die deutschen „Regeln“ und die typisch deutsche Pünktlichkeit. Er mag es, wie nett die Menschen zu ihm sind, und dass sie sich um ihn kümmern.

Auch eine Freundin hat Amir. Er lernte sie in einem Fotografie- und Filmkurs kennen. Auf einem Fest in Bühl gesteht er ihr seine Liebe. Inzwischen sind sie ein festes Paar und teilen nicht mehr nur die Begeisterung für Fotografie. Er empfindet sich als den glücklichsten Mann der Welt. Wären da nicht die vielen Sorgen. Freunde von ihm wurden bereits von Deutschen verprügelt, weil sie bei einer Frage nicht auf Deutsch antworten konnten. Das macht ihm Angst. Auch seine Familie bereitet ihm Sorgen, seinen Eltern geht es nicht gut. Außerdem belastet ihn die ständige Angst vor der Abschiebung. Die Zukunft? Viele Fragezeichen. Neue Pläne? Keine Ruhe. Genuss von Liebe? Keine Muße.

Zu den Problemen der Gegenwart kommen die der Vergangenheit. Erinnerungen quälen ihn und lassen ihn nicht schlafen. Ich frage ihn, ob er zurückkehren möchte in seine Heimatstadt, wenn der Krieg vorbei ist. Er antwortet mir, dass er nicht glaubt, dass der Krieg in Afghanistan jemals enden wird.

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Jessica Stolzenberger

Jahrgang 1999. Hat 2018 ihr Abitur am Ludwig-Wilhelm-Gymnasium in Rastatt gemacht. Will Journalistin werden, aber erst einmal Philosophie studieren. Versucht die Welt ein wenig besser zu machen und schreibt deshalb bei Ravolution mit. Lieblingszitat: Es gilt nicht, die Wand wegzuschaffen, sondern die Tür zu finden. – Herrmann Hesse