
Wer Olesya zuhört, fühlt sich mitten in einem Krimi. Aber es ist keine Phantasie, sondern die schier unfassbare Wirklichkeit. Olesyas Mann muss nach einem Notfall in Kiew an der Wirbelsäule operiert werden. Der chirurgische Eingriff gelingt. Jetzt bräuchte ihr Mann viel Ruhe. Es ist der 22.02.2022. Ein Traumtag zum Heiraten in Deutschland. In der Ukraine sind es sprichwörtlich die Stunden vor dem Sturm.
Zwei Tage später läuft der Vormarsch der russischen Truppen auf die Ukraine an. Die Schlacht um Kiew beginnt. An Ruhe ist für ihren 57-jährigen Mann nicht zu denken. Gleichzeitig sind sie in Sorge um ihre 7-jährige Tochter Vasilisa, die sie vor dem Klinikaufenthalt 800 Kilometer entfernt bei Olesyas Mutter untergebracht haben. Im Gebiet Luhansk. Ihre Heimatstadt liegt nur 15 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Russische Soldaten marschieren ein und besetzen die Stadt. Oma und Enkelin müssen in einem Keller ausharren. Voller Angst, voller Ungewissheit.
Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer: Kinder werden nach Russland verschleppt. Was erst nur ein Gerücht ist, wird später zur Gewissheit eines grausamen Kriegsverbrechens: Viele tausende Kinder werden deportiert. Olesyas Angst ist auch ohne dieses Wissen übermächtig: Was ist mit ihrer Tochter? Was passiert mit ihr? Was passiert mit ihnen selbst? Sie hören Detonationen und die Aufforderung, Kiew zu verlassen. Ihr Mann kann weiterhin nur liegen. Als ob alles nicht schon schlimm genug wäre: Es gibt bei ihm Komplikationen mit den Beinen und den Nervenbahnen.
Olesya geht alle Möglichkeiten durch, wie sie ihre Tochter retten und mit ihrem bettlägrigen Mann fliehen kann. „Ein Bekannter von mir, ein Soldat, sagte, er müsse in ein anderes Gebiet verlegt werden und könne Vasilisa mit einem Panzer abholen. Das klang absurd – aber in diesem Moment musste man jede Möglichkeit in Betracht ziehen.“
Zwischenzeitlich ist die kleine Vasilisa in einem anderen Keller untergebracht. Zusammen mit 21 Erwachsenen und Kindern, vier Hunden und drei Katzen. Sie berichtet später ihrer Mutter: „Mama, du kannst dir nicht vorstellen, was passiert ist. Plötzlich haben alle Kinder und sogar unsere Katze Nasenbluten bekommen. Gleichzeitig! Was für ein Zufall!“ Es war natürlich kein Zufall, sagt Olesya, „es lag an den Druckwellen nach einer Bombardierung in der Nähe. Aber für sie war es ein komischer Zufall. Das war eine furchtbare, eine absurde Zeit. Alles wirkte surreal.“
In dem Überlebenskeller organisiert ein Mann Tische; es gibt Unterricht mit Schreiben, Lesen und Musizieren. Sie gründen eine kleine Band: Er spielt Gitarre, Vasilisa Geige. „Er tat alles, was möglich war, um die Kinder abzulenken – um sie vor der Realität zu schützen.“ Dabei zeigt er, so die verzweifelte Mutter: „Gegen den Stress hilft Kreativität, hilft Musik, hilft Lachen. Für meine Tochter war das entscheidend – sie hat in dieser Zeit kaum gespürt, wie schrecklich die Situation eigentlich war.“ Ein bisschen wie im Film „Das Leben ist schön“.
Wie ist die Ausreise aber gelungen? Kurz gesagt: Olesyas Bruder holte die Mutter und ihre Tochter ab. „Sie konnten nichts mitnehmen – keine Sachen, gar nichts. Unsere Familie hat alles verloren. Die Wohnung meiner Mutter wurde zerstört, unsere eigene Wohnung wurde geplündert. In unserem Haus wohnen jetzt russische Soldaten. Sie haben ein Video darin gedreht und auf YouTube hochgeladen. Ich habe es mir fünfzehn Mal angesehen. Und dann irgendwann gesagt: Das reicht. Der Schmerz ist genug.“
Olesyas Leben, ihr Überleben und ihre Erinnerungen an Krieg, Flucht und Ankommen sind die Blaupause für die Frage zu unserer Ausstellung: Was würde ich tun? Allen Kritikern von Flüchtlingen und allen Verharmlosern von Fluchtgründen möchte man ihre Schilderungen vor die Nase halten: Ja, was würdet ihr tun? Hättet ihr das ertragen, ohne zu zerbrechen?
Zeitenwechsel. Drei Jahre und viele unglaubliche Einschnitte später. Die Familie lebt in Bühl. Olesya, die so genannt wird, obwohl in ihrem Pass eigentlich Olena steht, war in der Ukraine Rechtsanwältin. Ein Beruf, den sie in Deutschland nicht ausüben kann. Die heute 37-Jährige sucht eine Arbeit. Bei ihrem ersten Sprachkurs dachte sie noch: Der Krieg wird bald vorbei sein, dann können wir zurück in die Ukraine. Doch je länger es dauert, umso besser die Integration läuft, umso drängender wird die Frage: „Gehen wir wieder zurück, wenn wir es können? Vor allem weil wir alles verloren haben.“ Ihre Tochter kommt in die 5. Klasse der Realschule. Olesya und ihr Mann sind im Badischen zur Ruhe gekommen.
Bei allem Schrecklichen, was die Familie in den vergangenen Jahren erlebt hat, gibt es immer mehr Momente zum Schmunzeln. Olesya erzählt vom badischen Leibgericht Zwetschgenkuchen mit Kartoffelsuppe. „Als ich das gehört habe, dachte ich: ‚Das klingt schrecklich, tut mir leid.‘ Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass man das zusammen isst. Aber dann habe ich erfahren, dass das so ein richtiges Oma-Rezept ist. Ich war mutig, ich habe es probiert“, lacht sie: „Und es hat geschmeckt! Siehst du, ich bin schon fast integriert.“
Ein Bericht über die Zwangsdeportation von ukrainischen Kindern nach Russland durch ein Magazin der Konrad-Adenauer -Stiftung: https://www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/blog/detail/-/content/gestohlene-leben-die-verschleppten-kinder-der-ukraine
Dieser Beitrag wurde 2025 von Ute Kretschmer-Risché geschrieben.