Obaidullah aus Kapisar, Afghanistan

„Ich hatte den Wunsch, eine Familie zu gründen.“ Obaidullah fühlt sich einsam. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er möchte abends nach Haus kommen, zu seiner Frau und seinem Kind. Ein ganz normaler Wunsch, wie ihn Millionen von Menschen teilen. Es könnte auch alles normal sein: Ausbildung abgeschlossen. Gute Arbeit. Heirat. Passende Wohnung. Geburt der Tochter. Was fehlt, ist die Gemeinsamkeit. Denn während Obaidullah in Bayern lebt, dürfen seine Frau und seine dreieinhalbjährige Tochter nicht aus der Türkei nach Deutschland einreisen.

Das Paar hat sich über die Familien von beiden kennengelernt. Der Austausch läuft anfangs über Internet und Telefon. So wie bei vielen anderen Paaren auch. Die Hochzeit findet 2021 in der Türkei statt. Seither versuchen beide zueinander zufinden. Das heißt: Alle Auflagen zu erfüllen. Die Familie könnte von Obaidullahs Gehalt leben, seine Wohnung ist ausreichend groß. Woran es hapert: Seine Frau hat auch im 5. Anlauf den deutschen Sprachtest nicht bestanden. Trotz Nachhilfe und Online-Kursen. Doch das Zertifikat ist die Voraussetzung für die Familienzusammenführung.

Ihr falle das Lernen schwer, erzählt Obaidullah. In Afghanistan konnte sie nicht regelmäßig eine Schule besuchen. Deutsche Wörter und Grammatik seien wie ein Buch mit sieben Siegeln. Jede Anmeldung zur Prüfung kostet 300 Euro. Drei Mal im Jahr fliegt Obaidullah zu Frau und Kind, beide leben bei ihren Eltern. „Obi“, wie er liebevoll genannt wird, hat im Landkreis Rastatt bei einem Einzelhändler seine Ausbildung abgeschlossen. Danach wechselt er zu einem Mitbewerber nach Rastatt. Aber er fühlt sich hier nicht wohl, zieht schließlich nach Bayern, seine Brüder wohnen in Passau.

Heute arbeitet er an einer Fleisch- und Wursttheke – als Moslem. Die Arbeit mache ihm Spaß, vor allem der Kontakt mit den Kundinnen und Kunden. Nur der Umgang mit Schweinefleisch sei nicht einfach. Aber Obaidullah hat schon so viele Kompromisse in seinem Leben schließen müssen. Sich immer wieder auf neue Gegebenheiten einstellen. Auch das schafft er. Abends freut er sich auf das Telefonat mit Frau und Kind. Ein weiterer Kompromiss: eine technisch ermöglichte Nähe. Sobald es geht, will er seiner Tochter von den Unterschieden in Afghanistan, der Türkei und Deutschland erzählen. Dass man hier als Mädchen und Frau frei leben könne: freie Bildungswahl und freie Berufswahl habe. Und er regt sich auf über die Taliban, die im Erdbebengebiet das Berühren und somit Bergen von fremden Frauen aus angeblich religiösen Gründen verboten haben.

Apropos Frauen: Lieber Obi, 2018 wolltest du Kanzlerin Merkel danken, dass so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen konnten. Und heute? Willst du Kanzler Merz auch etwas sagen? „Ja, es ist besser, wenn Frauen an der Macht sind.“

Viele schreckliche Bilder, die wir sehen, sind reine Phantasie in Filmen: erdacht von Autoren und umgesetzt von Regisseuren. Doch manche aufwühlende Geschichte ist real. Wie bei Obaidullah, 22 Jahre alt, aus der Provinz Kapisa in Afghanistan. Sein Leben gleicht einem traurigen Kino-Epos mit ihm in der Hauptrährend er jedoch früher neben der Schule auch als Schauspieler tätig war und dramatische Figuren verkörperte, spielt Obaidullah längst die Rolle seines Lebens – in der Wirklichkeit.

Es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor, da war er in Afghanistan Teil eines Films über Mafia und Taliban. Ein gefährliches Projekt. Eines Tages hatten Obaidullah und die Filmcrew einen Auftritt in einer anderen Stadt. Nach drei Tagen kamen sie wieder zurück. Das ganze Equipment war durch die Taliban zerstört worden. Dabei hatten sie noch Glück, dass es nur Materialschaden war. Aber für Obaidullah war klar: Sein Leben und das seiner Familie ist in großer Gefahr. Er hatte Angst, dass seinem Onkel und seinen Brüdern etwas angetan wird, wenn er nicht flieht. Das zerstörte Equipment war ein Warnschuss.

In Afghanistan lebte Obaidullah seit seinem 16. Lebensjahr bei seinem Onkel, seitdem seine Mutter an einer Krankheit gestorben war. Sein Vater war bereits im Krieg getötet worden, als er 7 Jahre alt war. Er flüchtete alleine nach Deutschland und schloss sich anderen Flüchtlingen an. So wie viele aus dem Filmteam. Kritik und Auseinandersetzung sind gefährlich in Afghanistan. Er redet stockend über die Zeit, noch weniger über die Flucht durch die Türkei über die Balkanroute und schließlich nach Deutschland. Er musste mit ansehen, wie Menschen vor Erschöpfung am Wegesrand lagen und nicht mehr weiter konnten.

„Wir hatten große Angst.“ Ihr einziges Ziel war es, zu überleben. Viele Frauen, berichtet Obaidullah, mussten sich auf der Flucht prostituieren, um das Geld für die Schlepper beizubringen. „Werde ich das hier überleben? Werde ich verhungern, verdursten oder von einem Tier gefressen?“ Als Obaidullah loslief, wurde ihm gesagt, dass er eine Überlebenschance von fünf Prozent hätte. Er war verzweifelt. Aber die Flucht ging weiter. In Bulgarien hatte Obaidullah viele Verletzungen und fast keine Kraft und keine Hoffnung mehr. In Serbien wollte er mitten im Wald einfach liegen bleiben. Irgendjemand half ihm weiter. Bis Polizisten sie aufstöberten und auf sie einschlugen. Weiter. Weiter. Weiter. Nirgends war es sicher. „Was Allah will, das wird passieren“.

Zusammen mit anderen Flüchtenden liefen sie immer wieder um ihr Leben. Oft auch im Kreis. Von Serbien nach Ungarn, um schließlich wieder in Serbien zu landen, weil sie einen falschen Weg genommen hatten. Schließlich wurden sie von einem Autofahrer aufgegabelt, der sie nachts ohne Bezahlung nach Ungarn transportierte. Für Obaidullah ganz klar: Er hat sie gerettet, ohne dass er wusste, wer sie waren. Und ja, Allah hat sie durch ihn gerettet. Von Afghanistan bis Deutschland hat ihnen niemand geholfen, auch nicht die Polizei, nur dieser Mann. Ein kurzes Dankeschön. Mehr nicht.

Heute lebt Obaidullah im Landkreis Rastatt, er hat seinen Hauptschulabschluss an der Anne-Frank-Schule absolviert und macht bei Aldi eine Ausbildung zum Verkäufer. Nebenbei spielt er wieder als Schauspieler. Am Phoenix Theater in der Reithalle war er schon im „Hamlet“ zu sehen. Eine kleine Rolle, bei der er ganz groß war.

Wie es weitergeht? Obaidullah denkt viel nach. In Afghanistan leben noch Verwandte von ihm und seine besten Freunde. Seine zwei Brüder sind mittlerweile ebenfalls in Deutschland und wohnen beide in Passau. Die Flucht und das Leben in Deutschland hat sie auseinander gerissen. Er ist dennoch dankbar. Auch wenn er immer wieder als Flüchtling beschimpft wird. Für ihn ist das Wichtigste, dass er gesund und sicher ist. Würde er Kanzlerin Merkel treffen, würde er sie umarmen und ihr danken. Deutschland habe ihn gerettet. Für sein Leben, seinen Körper, sei es gut gewesen, dass er geflohen ist, sagt Obaidullah. Aber für seine Seele? Er sei oft schlaflos und habe Albträume von früher und von der Flucht. Ihn verfolgen die Bilder und seine ständige Angst, zurück geschickt zu werden. Nach Afghanistan, wo er in seinen schlimmsten Albträumen verhaftet und  getötet wird.

Dieser Beitrag wurde 2017 von Zazou Hassouna geschrieben und 2025 von Ute Kretschmer-Risché aktualisiert.