
Vor diesem Tag hatte ich Angst: Es klingelt an meiner Tür. Davor stehen Mouhnnad, Laila und ihr Sohn Noah. An den Augen von Mouhnnad erkenne ich: Es ist soweit. Sie fliegen zurück nach Syrien. Als sie mir im Frühjahr von ihren Plänen erzählen, habe ich geweint. Ganz egoistisch, aber auch voller Sorge. Ist der Krieg wirklich vorbei? Ist der Frieden stabil? Wie sieht die Versorgung aus? Bekommt Noah eine gute Schulbildung?
Ich verstehe Mouhnnad: Der Vater ist Ende 2024 gestorben, die Mutter lebt allein. Er will seinen Pflichten als Sohn nachkommen. Und er will beim Aufbau seines zerstörten Heimantlandes helfen. Aber auch er stellt sich viele Fragen. Schließlich ist er nicht nur Sohn, sondern jetzt auch Vater und muss an seine eigene Familie denken. Noah, geboren am 1. Juli 2019 in Rastatt, würde im Herbst zur Schule kommen. Einen Wechsel danach wollen Mouhnnad und Laila ihrem Sohn nicht zumuten. Zwei Seelen in einer Brust. Tun sie das Richtige? Sie sind Syrer und haben die deutsche Staatsangehörigkeit. „Vielleicht kommen wir wieder zurück“, sagen sie.
Rückblich auf die Zeit zwischen unserem ersten Bericht und heute: Nach dem Abschluss seiner Ausbildung bleibt Mouhnnad zunächst bei Hauraton in Rastatt. Dann macht er sich selbstständig. Mit dem ersten Pizzalieferservice, dann mit dem zweiten, schließlich folgt noch eine dritter. Mouhnnad stellt Geflüchtete ein. Manches klappt gut, bei manchem verzweifelt er schier. Warum muss er für den Pizzakarton 7 % berechnen, wenn die Pizza nach Hause geliefert wird? Und warum 19 %, wenn der Abholer die Pizza dann doch gleich bei ihm isst? Unverständliche Vorschriften, Formulare und die überbordende Bürokratie – auch daran werde er in Erinnerung an Deutschland denken…
Die Familie ist dankbar für ihre Zeit im Landkreis Rastatt. Die Sicherheit, die sie hier hatte. Die beruflichen Möglichkeiten. Das Lernen, wie eine Demokratie funktioniert. Wie stolz sie an ihrer ersten Bundestagswahl teilgenommen haben. Vielleicht können sie, sagen die Zwei, etwas vom gut funktionierenden System nach Syrien mitnehmen. Ihr Plan: Ein Baugewerbe mit einem Cousin von Mouhnnad gründen. Syrien braucht viel Aufbau.
In dem Bericht über Mouhnnad und Laila von 2017 steht, dass sie Freunde in Deutschland gefunden haben. Das stimmt und doch ist es viel mehr: Für mich sind sie Familie! Nie werde ich Heiligabend 2018 vergessen: Mouhannd und Laila ziehen mich vor den Weihnachtsbaum und strahlen mich an: „Du wirst Oma:“
Über keinen Syrer kann ich so viele lustige Geschichten erzählen wie über Mouhnnad. Aber auch so viele herzzerreißende, die mir die Tränen in die Augen treiben. Wir haben uns per Zufall kennengelernt. Da lebte er in einer Männer-WG in Durmersheim. Froh darüber, hier zu sein. Traurig darüber, seine frisch vermählte Frau noch in Syrien zu wissen. So wie seine Eltern und Geschwister. Es war sein Vater, der ihn nicht bat, sondern ihn drängte, ja regelrecht befehligte, aus Syrien zu fliehen. Weg vom Krieg, weg von den Anschlägen. Da hatte er kurz zuvor eine Bombe verletzt überlebt und sein älterer Bruder war als Soldat gefallen. „Mein Vater wollte keinen weiteren Sohn verlieren“, sagt Mouhnnad traurig. Also machte er sich auf den Weg.
Mouhnnad spricht gut Deutsch, er ist fleißig und organisiert sein Leben engagiert in Deutschland. Mit eigener Wohnung, einem Auto und einer Ausbildungsstelle. Er lacht viel, kocht und isst gerne und macht Zukunftspläne. Doch schon mehrmals in seinem jungen Leben stand alles auf der Kippe. Erstmals bei dem Anschlag, den er überlebte. Dann auf der Flucht. Davon erzählt er nicht gerne. Wie oft er Geld zahlen musste, um auf der Route weiterzukommen. Von der Angst im Mittelmeer, als er über Bord ging und die restliche Strecke nach Griechenland schwimmen musste. Von den Strapazen, hunderte Kilometer zu laufen. Kaum etwas zu essen und zu trinken zu haben. Immer in der Angst, von Polizisten aufgegriffen zu werden.
Wenn er an Ungarn denkt, kommt alles wieder hoch: Wie Polizisten ihn jagten und Hunde auf ihn hetzten. Stundenlang versteckte er sich im Februar in einem eiskalten Gewässer – und wurde doch entdeckt. Die Uniformierten schlugen ihn, verhörten ihn, steckten ihn ins Gefängnis. Ohne Wasser. Ohne Essen. Ohne trockene Kleidung. Ohne Heizung. Sollte alles umsonst gewesen sein? Er denkt an die Schlagstöcke auf seinen Füßen. Doch dann kommt Mouhnnad plötzlich frei. Er sucht den Weg an die Eisenbahnstrecke nach Österreich, mit dem Zug fährt er mit dem letzten bisschen Geld nach Wien und von da nach Deutschland. Alles wie in einem Film noir.
Im Badischen findet er Freunde. Aber er kommt nicht zur Ruhe. Zu groß ist die Sehnsucht nach seiner Laila. Noch in Syrien hatte er geglaubt, dass sie mit dem Flugzeug nachkommen kann. Doch daraus wird nichts. Er leidet. Genau wie sie rund 2700 Kilometer entfernt. Dazwischen liegt nicht nur das Mittelmeer, dazwischen liegen Welten. Schließlich der Entschluss: Laila flieht. Begleitet von Mouhnnads Cousin mit dessen Familie. Ich erlebe einen Mouhnnad zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Vorfreude und Angst. Laila kann nicht schwimmen. Und er kann sie nicht beschützen. Der Alptraum: Auf der Flucht geht irgendwann der Akku von Lailas Handy leer. Die Beiden haben keinen Kontakt. Tagelang kann Mouhnnad nicht essen, nicht schlafen. Er kennt die Route und die Gefahren. Was passiert, wenn das Boot kentert? Wir Freunde leiden mit. Unvorstellbar diese Tortur. Schließlich der erlösende Anruf: Laila ist in Österreich. Laila ist in Sicherheit.
Längst sind die Beiden wiedervereint. Mittlerweile 27 und 24 Jahre alt. Mouhnnad macht eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei dem Rastatter Unternehmer Hauraton. Eine frühere Ausbildung in Syrien wird von der Karlsruhe IHK anerkannt. Auch Laila hofft auf eine Ausbildungsstelle. Gleichbedeutend mit Perspektive, Sicherheit und somit Zukunft. Auf dem Weg in ein normales Leben. Mit einer aufwühlenden Vergangenheit.
Dieser Beitrag wurde 2017 von Ute Kretschmer-Risché geschrieben und 2025 aktualisiert.