
„Ich schaue kaum noch Nachrichten. Das ertrage ich nicht. So viel Negatives.“ Das hört man immer öfter von Deutschen. Wie mag es da erst Amir gehen? Der junge Afghane ist 2016 nach Deutschland geflohen. Seine Eltern und Geschwister müssen noch immer in dem Taliban-Staat leben. Amir: „Ich schaue nur selten Nachrichten, weil sie mich traurig machen. Ich versuche trotzdem, informiert zu bleiben. Aber eigentlich macht es mich kaputt. Die Sorge um meine Familie, aber auch die Sorge um alle Menschen dort.“
Mittlerweile hat der 31-Jährige eine eigene Familie. Er hat geheiratet und lebt mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter, die an Weihnachten fünf Jahre alt wird, in Sinzheim. Amir trägt für beide Familien Verantwortung – hier im Rebland, dort am Hindukusch. „Als die Situation in Afghanistan schlechter wurde, konnte mein Vater nicht mehr arbeiten. Ich habe angefangen, meiner Familie Geld zu schicken. Außerdem wurde ich selbst Papa.“ Das Geld, das er während der Ausbildung verdient, reicht nicht. Schweren Herzens bricht er seine Lehre ab. „Durch die finanzielle Verantwortung musste ich meine Pläne ändern und erst einmal Geld verdienen.“ Seither arbeitet er als Verkäufer bei einem großen Sportartikelhändler in Baden-Baden. Auch hier trägt er Verantwortung in seiner Schicht.
„Im Moment bin ich zufrieden, aber langfristig möchte ich mich auf jeden Fall weiterbilden.“ Wohin seine berufliche Reise geht, weiß er noch nicht. „Mich interessiert sehr der Zusammenhang von Trainingsmethoden, körperlicher Fitness und Ernährung.“ Sport ist sein Ventil, wenn er sich wieder große Sorgen um seine afghanische Familie macht. Das kennt er von anderen jungen Männern, für die er im Kinder- und Familienzentrum „Sport mit Amir“ anbietet: Kickboxen, Fußball, Fitness- und Krafttraining.
Traurig gibt Amir Einblick in sein Seelenleben: „Meine Mama und mein Papa sind alt und krank. Ärzte und Medikamente gibt es nicht. Das war früher besser. Aber jetzt, da die Taliban zurück sind, gibt es nichts mehr. Für meine Mutter wäre Bewegung an der Luft wichtig, das würde ihr guttun, aber Frauen dürfen nicht raus. Auch für meine Geschwister ist es sehr schwer.“ Vor allem seine Schwestern leiden. „Sie dürfen nicht mehr in die Schule, nicht lernen, nicht arbeiten. Zwei meiner Schwestern wollten Lehrerinnen werden. Jetzt bleibt ihnen nur, zuhause bleiben, heiraten und Kinder kriegen. Sie sind sehr traurig. Ich kann kaum darüber nachdenken und sprechen. Die Gedanken quälen mich sehr.“ Über den Kommunikationskanal WhatsApp können sie sich austauschen. Über Video-Call sehen die fernen Verwandten auch die kleine Enkelin beziehungsweise Nichte – und diese sieht wiederum ihre Großeltern, Tanten und Onkeln.
So ist Amir auf dem Laufenden, was in Afghanistan passiert. „Für die junge Generation in Afghanistan ist die Entwicklung eine Katastrophe. Besonders für die Frauen, die keine Rechte mehr haben. Aber auch für die jungen Männer. Sie haben kaum eine gute Zukunft. Kein Frieden, keine Freiheit, keine Zukunft. Man kann sich das gar nicht vorstellen.“
Wie siehst du die Lage, dass die Bundesregierung trotz früherer Zusagen kaum noch Afghanen, die den Deutschen und den USA geholfen haben, aus dem Land holen? Amir hat eine klare Haltung: „Man kann sie doch nicht einfach dort sitzen lassen. Gleichzeitig finde ich es wichtig, dass die Bundesregierung genau hinschaut, wer nach Deutschland kommt. Es muss kontrolliert und geprüft werden, damit die richtigen Personen hierhergebracht werden.“
Amir informiert sich auch, was in Deutschland passiert. Ihm macht das Erstarken der Rechtsradikalen zu schaffen. „Meine Sorge ist, dass diese immer mehr Stimmen bekommen, sogar von Menschen mit ausländischen Wurzeln. Die Partei ist klar gegen Ausländer, und ihre Haltung erinnert an dunkle Kapitel der deutschen Geschichte. Ich habe Angst, dass Deutschland wieder in eine ähnliche Richtung gehen könnte. Ich denke viele Menschen verstehen nicht, was es heißt, ohne Freiheit und Frieden zu leben und wie wichtig es ist, alles zu tun, um das zu schützen.“
Dabei denkt er besonders an sein Kind. „Meine Frau ist Deutsche*, aber unser Kind sieht aus wie ich: dunkle Haare, dunkle Augen, dunkle Haut. Ich frage mich, ob es unter einer fremdenfeindlichen Politik frei und sicher leben könnte. Auch für meine eigene Zukunft habe ich Sorgen. Ich würde gerne einen eigenen Laden aufbauen, aber manchmal frage ich mich, ob das alles Bestand hätte, wenn diese Partei an die Macht kommt.“ Und doch – er sagt auch: „Gleichzeitig gibt mir Hoffnung, dass es viele Menschen in Deutschland gibt, die gegen eine spaltende und ausländerfeindliche Politik stehen und sich für ein offenes, freundliches Miteinander engagieren. Das macht mich froh und gibt mir Mut, hier weiter meinen Weg zu gehen.“
*Müssen wir die Nationalität der Ehefrau wirklich erwähnen? Vielleicht weil es so selten ist, dass Flüchtlinge „Einheimische“ heiraten? Belastbare Statistiken oder Studien gibt es nach unserer Recherche dazu jedoch nicht. Eher die Erfahrung von Flüchtlingsbegleitern: „Das ist eine große Ausnahme.“
Dies ist die Geschichte eines Menschen, der seit 24 Jahren auf dieser Erde existiert. Sein Name ist Amir – und dies ist ein Einblick in seine Lebensgeschichte.
Amir wächst in seiner Heimatstadt Kundus auf, dort geht er zwölf Jahre lang zur Schule. Er arbeitet eine Zeitlang in einer Autowerkstatt und in einer Bibliothek der Amerikaner, in der er Computerkurse für Frauen gibt. Amir hat Haustiere. Jedoch keine gewöhnlichen, die man in einer Wohnung in Berlin halten könnte. Er hat Papageien und Hasen. Die Voliere hat er selbst gebaut. Insgesamt besitzt er zwei große Papageien und 26 kleinere Vögel. Einer der Papageien tanzte und pfiff zu Musik, der andere beherrschte das Wort „babagha“ – Papagei.
Während er mir das alles erzählt, spinnt mein Gehirn ein Bild von einer südlichen Nachbarschaft. Helle Häuser, im Garten auf grünem Rasen eine große Voliere mit bunten Vögeln. Fröhliche Menschen, ein glücklicher Amir, der von der Schule nach Hause kommt und mit seinen Vögeln spielt. Aber der Eindruck ist zu verklärt. Amir sagt mir, dass er seit seiner Geburt nichts anderes als Krieg kennt. Das schöne Bild verblasst.
2015 fällt die für Afghanistan sehr grüne und fruchtbare Stadt in die Hände der Taliban. Die Jahre zuvor haben die Drohungen und Anschläge stetig zugenommen. Auch die amerikanische Bibliothek, in der Amir arbeitet, erhält ein Drohschreiben der Taliban, eine Bombe wird vor der Tür gefunden. Amir bekommt den Hass der Terrormiliz auf die westliche Kultur unmittelbar zu spüren. Aus Angst kehrt er nicht an seinen Arbeitsplatz zurück. Als die Taliban Kundus stürmen, ist die Familie in der Wohnung eingeschlossen, ohne Nahrungsmittel. Nur durch die Hilfe der Armee, die ihre Straße tageweise zurückerobert, können sie aus der Stadt fliehen. Sie mussten jedoch alles zurücklassen, auch die Papageien.
Der jüngere Bruder überlebt nicht. Die Taliban haben ihn erschossen. Sein Vater drängt Amir zu fliehen, er will nicht noch einen Sohn verlieren. Schließlich haben es die Taliban besonders auf die jungen Männer abgesehen. Amir, damals 22 Jahre alt, lässt seine Eltern und seine beiden Schwestern zurück und macht sich auf den Weg. Einen Monat dauert die Reise zu Fuß.
Weit entfernt, in Deutschland angekommen, ist Amir alleine. Lange Zeit traut er sich kaum aus der Unterkunft. Er hat Angst, fühlt sich verloren in der neuen Umgebung. Mittlerweile lernt er Deutsch und hat einen Ausbildungsplatz als Altenpflegehelfer beim Roten Kreuz in Bühl. Er mag die deutschen „Regeln“ und die typisch deutsche Pünktlichkeit. Er mag es, wie nett die Menschen zu ihm sind, und dass sie sich um ihn kümmern.
Auch eine Freundin hat Amir. Er lernte sie in einem Fotografie- und Filmkurs kennen. Auf einem Fest in Bühl gesteht er ihr seine Liebe. Inzwischen sind sie ein festes Paar und teilen nicht mehr nur die Begeisterung für Fotografie. Er empfindet sich als den glücklichsten Mann der Welt. Wären da nicht die vielen Sorgen. Freunde von ihm wurden bereits von Deutschen verprügelt, weil sie bei einer Frage nicht auf Deutsch antworten konnten. Das macht ihm Angst. Auch seine Familie bereitet ihm Sorgen, seinen Eltern geht es nicht gut. Außerdem belastet ihn die ständige Angst vor der Abschiebung. Die Zukunft? Viele Fragezeichen. Neue Pläne? Keine Ruhe. Genuss von Liebe? Keine Muße.
Zu den Problemen der Gegenwart kommen die der Vergangenheit. Erinnerungen quälen ihn und lassen ihn nicht schlafen. Ich frage ihn, ob er zurückkehren möchte in seine Heimatstadt, wenn der Krieg vorbei ist. Er antwortet mir, dass er nicht glaubt, dass der Krieg in Afghanistan jemals enden wird.
Dieser Beitrag wurde 2017 von Jessica Stolzenberger geschrieben und 2025 von Ute Kretschmer-Risché aktualisiert.