
Diesen Tag wird Mutasem nie vergessen: 28. September 2015. Das ist das neue Geburtsdatum des gebürtigen Syrers. Der Grenzübertritt nach Deutschland. Seither ist viel passiert. Der alleinerziehende Familienvater von zwei Töchtern hat seinen Sprachkurs B1+ bestanden und eine Arbeitsstelle gefunden. Der 50-Jährige arbeitet beim DRK Bühl und macht – wie er selbst sagt – „vieles.“ Unter anderem ist er im Fahrdienst tätig.
Mutasem fährt Senioren in der Tagespflege von zuhause und zurück, auch für die Lebenshilfe ist er im Einsatz, außerdem holt er das Mittagessen und die Post ab. Für zwei Transporter ist er zuständig: Er achtet auf Ordnung und Sauberkeit, wäscht die Fahrzeuge lieber mit der Hand, als sie durch eine Waschstraße zu fahren.
Der gebürtige Syrer, dessen Töchter mittlerweile 15 und 16 Jahre alt sind und in die 10. Klasse gehen, hat eine Wohnung gefunden. Endlich raus aus der Gemeinschaftsunterkunft. „Meine Töchter sind 70 % deutsch, 30 % arabisch“, sagt er. Schwankend zwischen Begeisterung und Traurigkeit. Sie wüssten mehr über die Sprache, Kultur, Feste und das Leben in Deutschland als aus ihrem Mutterland. Das zeige sich immer in schwierigen Gesprächen mit anderen Syrern, gerade aus seiner Familie. Das ist der Unterschied zwischen den beiden Generationen. Die Integration ist bei den Töchtern so ganz nebenbei weit fortgeschritten.
Und beim Vater? Er lacht über seine eigene deutscher Ader. Was hast du von deinem neuen Heimatland angenommen? Da kommt das Gespräch schnell auf deutsches Essen. Kartoffelbrei liebt er. Das kannte er vorher nicht: Kartoffeln und Milch? Das klang verrückt, sagt er lachend. Auch Suppen kocht er mittlerweile sehr gerne. Sein Favorit: Zucchinisuppe.
Über die Forderung von Rechtsradikalen – „Ausländer raus“ – kann Mutasem nur den Kopf schütteln. „Ich zahle hier viele Steuern“, nickt er, so wie viele andere auch. Ja, er habe von Deutschland ganz am Anfang Geld bekommen, dazu Essen und eine Unterkunft. Aber das zahle sich jetzt aus. „Wenn wir Tschüss sagen und gehen: Wer macht dann unsere Arbeit?“Deutsch lernen fällt ihm schwer, seine Töchter sprechen es besser als er: Mutasem wohnt in Oberweier bei Bühl und macht gerade einen Deutschkurs. Seine Nachbarn sind etwas älter, sehr nette und hilfsbereite Menschen. Er würde gerne mehr mit ihnen reden, aber er versteht den badischen Dialekt nur schlecht. Das macht ihn oft unsicher und lässt ihn lieber schweigen, was man als Unhöflichkeit missverstehen könnte.
Seine Eltern stammen aus Palästina. Sie flohen 1948 vor dem Krieg nach Syrien, wo Mutasem geboren wurde. 2011 kam der Bürgerkrieg nach Syrien. Mutasem und seine Familie leben zu diesem Zeitpunkt noch in Daraa und somit in einem Epizentrum der Auseinandersetzungen. Sie bleiben noch vier Jahre in Syrien, bis eine von ihm belieferte Apotheke an Assads Gegner verkauft wird. Ein warnender Anruf seines Kollegen lässt ihn aus der Stadt fliehen, so lange er es noch kann. Er will nicht zwischen die Fronten im Bürgerkrieg geraten. Seine beiden kleinen Kinder sind sein Ein und Alles. Sie will er schützen, sie sollen nicht einem Massaker zum Opfer fallen.
Mit seinen zwei Töchtern zieht er in die Nähe von Aleppo, wo sie noch ein Jahr wohnen. Als dort die Islamisten beginnen, sich die Stadt einzuverleiben, flieht er in die Türkei und von dort nach Deutschland. Seine Kinder besuchen hier die Grundschule. Sie sind knapp drei Jahre hier und können Deutsch vielleicht irgendwann besser als Arabisch. Mutasem ist froh, da sie hier sicher aufwachsen und viele Möglichkeiten haben, auch die westlichen Freiheiten schätzt er sehr. Wenn er seinen Deutschkurs abgeschlossen hat, würde er gerne einen guten Job finden, um seine Kinder zu versorgen. Große ausgefallene Pläne und Träume hat er nicht. „Ich muss Vater und Mutter sein“, sagt er mit einem ehrlichen und doch leicht angestrengten Lächeln.
Seine geschiedene Frau wohnt in Schweden, es gab einmal ein Treffen zwischen ihr und den Töchtern in Berlin bei den Verwandten der Mutter. Getrennt haben sich die beiden bereits in Syrien; die Mutter der Kinder wollte ihren eigenen Weg gehen. Seine Kinder träumen viel, jede Woche von etwas anderem, wie es Kinder nun mal tun. Ihr liebevoller Vater stellt sein Leben hintenan. Nichts ist ihm wichtiger als ihr Wohl. Auch deshalb ist er schlecht auf Syriens Diktator Assad zu sprechen. Er habe, sagt Mutasem, das Unheil vier Jahre sehen müssen und sieht die Schuld ganz klar bei Assad.
Bundeskanzlerin Merkel vergleicht er mit König Negus Ashama ibn Abjar aus dem 7. Jahrhundert. Den Erzählungen nach hat dieser christiche König Muslime in seinem Land aufgenommen, welche vor Verfolgung in Mekka flohen. Die Geschichte stammt noch aus den Anfängen des Islams und scheint unter Muslimen nicht unbekannt zu sein. Mutasem ist beeindruckt von der Willkommenskultur unseres Landes.
Vor einem Jahr lernt er über das Café International in Bühl Markus von den Volleyball Bisons kennen. Markus leitet das Aufbau-Team. Gemeinsam mit weiteren Syrern bereiten sie die Halle für die Bundesliga-Spiele vor, kleben die schweren Bodenbahnen und rollen sie nach dem Spiel wieder auf. Nach der harten Arbeit genießen er und seine Töchter die Atmosphäre bei den Spielen und fiebern mit „ihrer Mannschaft“, den Bisons, mit. Mutasem ist sehr dankbar für diese Aufgabe, erhält er dadurch doch auch ein bisschen Anerkennung und soziale Kontakte.
In Bühl darf er für die Kinder als nächste Generation hoffen, dass sie in Frieden und Sicherheit groß werden und ihren eigenen Träumen folgen können. Dafür lebt Mutasem – als Vater und Mutter.
Dieser Beitrag wurde 2017 von Paul Schneider geschrieben und 2025 von Ute Kretschmer-Risché aktualisiert.